Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so schwer fallen würde. Von einer Sekunde zur nächsten legte sich eine Last auf meine Schultern, ein Stein auf mein Herz, der es mir nicht ermöglichte, einen Mucks von mir zu geben. Ich stand erstmal nur wie angewurzelt da, während meine Augen von den Tellern zu den Brötchen, und von dort über die Spiegeleier und den Marmeladensorten wieder zurück glitten. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, und ich würde der Spielverderber sein, das Arschloch, dass es nicht zu schätzen wüsste. Dabei schätzte ich es.. ich schätzte es so sehr, so unsagbar sehr, dass es mir das Herz- nein, ich würde jetzt nicht zugeben, dass es mir das Herz brach. Das würde im Umkehrschluss heißen, dass ich.. dass ich schon in ihn verliebt war, und das durfte einfach nicht sein. Dabei hätte könnte ich gerade eine ganze Liste mit Dingen schreiben, die mich dazu verleiteten, in ihm eine der treusten, liebenswürdigsten und warmherzigsten Menschen zu sehen, den man nur lieben konnte. Ich war ein Idiot, ein Gefühls-Legastheniker, wie ich es betitelte.
Zögerlich kam ich näher und bemühte mich um eine ruhige Atmung, die nicht verraten sollte, was für ein Chaos ich gerade war. "Ich... also.." Was hätte ich denn sagen sollen? Ich war so überfordert, mit komplett allem, nicht nur mit dem Frühstück. Das war ja mein kleinstes Problem an der Sache. "Uhm.. danke", brachte ich irgendwie heraus, wirkte jedoch wesentlich verschlossener, was ich auch in dem Moment wirklich war, weil ich mich auf den Angstzustand in mir konzentrieren musste. Ich zog den Stuhl zurück und ließ mich auf ihm nieder. Mir war der Appetit vergangen, wenn ich ehrlich war, aber das wäre.. ein viel zu krasser, asozialer Move. Wobei ich sowieso in meinen Angstzuständen nicht dazu tendierte, "sozial" zu agieren. Ich hätte ihn niemals so nahe an mich ran lassen dürfen, das war ein verdammter Fehler gewesen. Nur, was mir gerade ordentlich missfiel war, dass ich ohne ihn komplett verloren wäre. Das hatte ich ihn auch wissen lassen, doch zu diesem Augenblick entglitt mir diese Tatsache aus den Händen. Ich war ihm selbst schon so Nahe, dass ein Rückzug nicht mehr möglich war. Nur konnte, und wollte ich das nicht einsehen.
Stumm aß ich vor mich hin, wich seinem Blick aus und achtete darauf, so wenig wie möglich mit ihm zu sprechen. Wenn ich mit ihm sprechen würde, müsste ich ihm in die Augen sehen. Wenn ich ihm in die Augen sah, würde ich mich in ihnen verlieren. Und wenn ich mich in ihnen verlor, dann würde ich ihn wieder an mir ranlassen. Ein Teufelskreis, dem ich keinerlei Beachtung schenken wollte. Ich wollte, sollte, mich mental darauf vorbereiten, keine Chance in meinem Liebesleben zu sehen.

fdIch konnte mich nicht auf das Essen konzentrieren, weil ich an nichts anderes dachte, als an die tausend alarmierenden Gedanken, Schreie und Vorwürfe, die in meinem Kopf von Winkel zu Winkel schallten. Wie eine CD, die hängen geblieben, und an ein und der selben Stelle den selben, schiefen Tonriss von sich gab, der einem das Trommelfell zerreißen konnte. Von diesem Chaos war jedoch äußerlich nichts zu erkennen, es bildete den kompletten Kontrast zu meinem stummen Erscheinungsbild, das in seinem Rührei herumstocherte. Irgendwann schien es Liam aufzufallen, was ich aus dem Augenwinkel erkannt hatte aufgrund seiner Blicke und seinen Bewegungen und.. einfach alles. Er verstand, beziehungsweise bemerkte, dass irgendwas nicht zu stimmen schien. Nur hatte ich das Gefühl, dass es ihn in seiner Betroffenheit heftiger reagieren ließ, als ich hätte reagieren können. Ich hob den Blick sofort, als er mich ansprach, weil seine Stimme eine ganz andere Klangfarbe angenommen hatte. Flehender, irgendwie. Und das bereitete mir Bauch- und Herzschmerzen, wenn ich ehrlich zu mir selbst gewesen wäre. Ja, ja das stimmte ja auch, dass ich den Sex von gestern nicht bereute und ja, ja ich hatte ihn geküsst; das machte alles nicht gerade einfacher. Ich wusste selbst nicht, wo mir der Kopf stand; es war zu viel.
Ich ließ die Gabel im Zwiespalt steckend auf dem Teller liegen, schob den Teller ein wenig von mir und stand einfach auf. Ich stand auf, kommentarlos und einfach nur.. zerstreut, und ging mit zügigen Schritten vom Tisch. Ich flüchtete, ohne dass es mir selbst wirklich klar war. Doch da schlug mein Unterbewusstsein Alarm; ich konnte nicht von meinen Problemen weglaufen, vor allem: Wohin denn? Ins Gästezimmer und den Wunschgedanken, mich einzusperren, in Erfüllung gehen lassen? Das war nicht das, was ich wirklich wollte. Das war die Angst, die mich leitete. Deshalb blieb ich auch nach ein paar Schritten stehen, zwang mich dazu, stehen zu bleiben. So konnte das nicht ablaufen, ich konnte ihn nicht einfach ohne eine Antwort verlassen. Nicht, wenn er so.. so viel für mich getan hatte. Das war nicht fair. Ich war nicht fair. Ich war schlichtweg abgefuckt und kompliziert.
Ich drehte mich langsam wieder um, und ich konnte mir vorstellen, wie zerstreut, unsicher und unentschlossen ich aussehen musste. Das Chaos kam nicht nur von Innen, es war jetzt auch von Außen erkennbar. "Was.. was erwartest du von mir, Liam? Was? Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir los ist, ich hab keine Ahnung, was richtig oder falsch ist, weil ich nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin und ob ich überhaupt noch der bin, der ich vor einer Woche noch gewesen war.. ich.. ich habe das, was ich gestern gesagt und getan habe, ernst gemeint, und ich würde es auch nicht zurücknehmen, weil ich ehrlich zu dir gewesen bin.. aber jetzt gerade, jetzt kann ich nicht ehrlich zu mir selbst sein, weil ich nicht weiß, was ich will.. ich weiß es einfach nicht, okay? Du tust so viel für mich, so unglaublich viel und.. ich bin dir so dankbar dafür, aber ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll.. woher soll ich wissen, dass du das nicht deswegen tust, weil ich ein Omega bin? Nicht wegen mir.. sondern wegen meinem Wesen! Im Endeffekt bin ich nichts anderes als die ganzen anderen Omegas, und du könntest genauso gut mit einem anderen..", ich stockte in meinem unendlich verzweifelten Redeschwall, und korrigierte mich, "mit einer anderen Omega schlafen und es würde auf das Selbe hinauslaufen!" Besonders dieser Gedanke traf mich härter, als ich es ausgesprochen hatte, weshalb meine Stimme danach auch wesentlich zittriger wurde. "Sobald dir eine andere Omega mit ihren scheiß Schüben entgegenkommt, wird das kein Unterschied sein.. wie soll das dann mit mir klappen? Wie soll ich mein Leben überhaupt ernst nehmen, wenn ich nicht weiß, wem ich wirklich vertrauen kann? Ich bin dafür nicht gemacht, Liam.. ich stoße Personen immer von mir, wenn sie mir zu Nahe kommen, weil ich..", sag es. Sag es, sonst wird er es nie verstehen, "... weil ich nicht verletzt werden will. Ich will das einfach nicht... aber wenn ich ein Omega bin, dann.. dann ist das Risiko viel höher, dass das passiert.." Ich hatte gar nicht bemerkt, wie mir Tränen in die Augen gestiegen waren. Ich zog meine Schultern leicht hoch und verschränkte meine Arme vor der Brust - weil ich mich gerade selbst halten musste. Ich musste mich selbst halten, obwohl ich eigentlich... eigentlich in seinen Armen gehalten werden wollte.

Es war dieses seltsame, unergründlich... verletzte und traurige Funkeln in Liams Augen gewesen, was mich schließlich dazu gebracht hatte, mit allem rauszuplatzen, das mich beschäftigte. Ich verstand zwar bis zu diesem Zeitpunkt nicht, warum ich diese Betroffenheit in seinem Ausdruck erkannt hatte, doch ging es jetzt erstmal darum, dass ich meinen Standpunkt loswerden musste. Ich begriff, dass es nichts besser machte, wenn ich es noch weiterhin für mich behalten hätte; wenn ich mir weiterhin im Stummen den Kopf über Dinge zerbrochen hätte, die nur er bestätigen, oder widerlegen konnte. Und wenn er nicht wüsste, was mit mir vorging; wie könnte ich ihm dann jemals gescheit in die Augen sehen? Nach alldem, was er mir geboten hatte, hatte er das Recht zu erfahren, wieso ich mir so schwer tat. Und wieso ich nicht zulassen wollte, dass er mir zu Nahe kam.
Einseitig zu Nahe.
Dass es jedoch beidseitig war, dass diese Gefühle eigentlich auf einer Wellenlänge standen, das wurde mir erst durch seine Worte, seinem Geständnis klar. Anfangs wirkte ich noch immer ziemlich.. frustriert, scheu und ängstlich und wäre bei seiner Berührung beinahe zurückgewichen, wenn er nicht so sanft gewesen wäre. Und der Inhalt seiner Aussagen wurde von Sekunde zu Sekunde schwerwiegender, bedeutsamer, und sorgte dafür, dass sich meine Arme langsam lockerten. Dass sich die Angst in meinem Inneren langsam auflöste, dass die zerstreute Verzweiflung in meinen Augen verblasste. Und meine Gesichtszüge sich erhellten, aus Verdutzung und Überraschung und... gemischten Gefühlen. Und als er plötzlich meinte, dass sein Herz raste, wenn er mich sah, und dass er mich küssen und beschützen wollte, dass ich in ihm jemand Unabhängigen sah, abseits von seiner Karriere oder seinem Status, und dass er sich in.. in mich verliebt hatte.. da klappte mir der Mund leicht auf. Das Kribbeln in meinem Körper wurde immer schlimmer, diese.. wie nannte man das, Schmetterlinge im Bauch? Keine Ahnung, aber so ein Gefühl steckte dahinter, und die Tatsache, dass mein Herz davon profitierte, indem es ein konstant schneller werdendes Tempo einschlug und sich eine Wärme in meinem Brustkorb bildete, die mich völlig.. stutzig zurückließ.. es war unbeschreiblich, was ich dabei fühlte. Er stellte mein Inneres komplett auf den Kopf, obwohl ich eigentlich genau das hatte vermeiden wollen, doch jetzt machte es so viel Sinn, warum das nicht mehr möglich wäre. Warum es einem Ding der Unmöglichkeit glich, wenn ich tatsächlich nach diesem... Liebesgeständnis noch behaupten könnte, mich von ihm distanzieren zu können oder.. müssen.
Dafür war es zu spät, viel, viel zu spät. Wenn er diesen Wirbelwind an Gefühlen und Glückshormonen in mir auslöste.. dann war es das auf jeden Fall. Unfähig, irgendetwas darauf erwidern zu können, ließ ich mich von dem süßen, traumhaft schönen Moment Gefangen nehmen, seinen zärtlichen und sanften Kuss in mir aufzunehmen. Es war so unglaublich heilsam für das unbändige Chaos, das vor wenigen Minuten noch in mir geherrscht hatte. Und ich.. ich fühlte mich.. geliebt. Und das war ein.. schönes Gefühl. "Du bist... unfassbar..", gab ich fast schon heiser von mir. "Ich.. wow.." Die Sprachlosigkeit blieb mir noch immer im Nacken hängen, sodass ich ein paar Ansätze brauchte, um mich nicht mehr von dem wahnsinnig warmen Braun seiner Augen irritieren zu lassen. Ich war so unglaublich.. verlegen geworden deswegen. "Ich.. tut mir Leid, dass ich so drauf war..", murmelte ich. "Ich.. du... es ist echt überwältigend, was du mir gerade.. gestanden hast, und ich..", stammel wie ein Idiot, weil ich auch in dich verliebt bin., beendete ich meinen Satz im Kopf. "Ich brauch nur.. ein bisschen Zeit... das ist alles so neu für mich und ich...", spuck's aus, "ich empfinde auch was für dich, und das .. das verwirrt mich.. und ich versuch damit klarzukommen, weil.. ich irgendwie echt nicht ganz einfach bin, was Gefühle angeht..", versuchte ich ihm meine Lage zu erklären. "Ich bin eigentlich echt keine gute Wahl, du solltest dich eigentlich gar nicht in mich.. verlieben.." Und jetzt kam der Part, indem ich mich selbst schlecht machte.

Eigentlich lag es auf der Hand, dass ich etwas für Liam empfand; jetzt, wo ich es mir langsam selbst eingestand, war es so Offensichtlich für mich. Die Gefühle, die ich bekam, wenn er mit mir sprach, mich ansah, das Kribbeln, wenn er meine Hände in seine nahm. Es war eindeutig, und im Endeffekt hätte ich nichts anderes getan, als mich selbst zu belügen. Und dadurch, dass er mit mir allem, was er hatte, versicherte, für mich da zu sein und mich zu beschützen, spürte ich, dass mich unglaublich warm ums Herz wurde. Er war so... unglaublich. Wie konnte er sich überhaupt in mich verlieben? Andersrum war viel logischer...
Doch bewies er mir mit seiner nächsten Aussage, dass er nicht so dachte. Er meinte, dass ich es wert war, und dass ich mich nicht schlechter machen sollte. Gott, er war so... so... unbeschreiblich. "O..okay.. ich versuch's zu unterbinden..", entgegnete ich leise und lächelte verlegen. Seine Hände ließ ich nicht los, ich drückte sie sogar kurz etwas, als Bestätigung, dass ich es mochte und mich nicht bedrängt fühlte.. auf keinen Fall. Vorhin vielleicht, aber das hatte nichts mit ihm zutun gehabt, sondern mit den ungeklärten, verzweifelten Fragen in meinem Kopf, die keine Ruhe gegeben hatten. Jetzt waren sie verstummt und ließen nur noch Platz für die frischen, scheuen Anfangsgefühle einer jungen Liebe.
Ich schenkte ihm ein kleines, niedliches Lächeln, als ich nickte und sah nochmal auf den Tisch. "Übrigens mag ich es.. sehr sogar", beantwortete ich seine vorherige Frage, ganz zu Anfang, als ich so verdattert vor dem Tisch gestanden war, und er sich nicht sicher gewesen war, ob es mir gefiel. Und wie; seinem Aufwand sprach ich hohen Wert zu. Nachdem das Frühstück hingegen meiner Anfangserwartungen entspannt und lieblick ausfiel, räumten wir noch gemeinsam den Tisch ab - das Mindeste, was ich tun konnte - bis wir mit allem fertig wurden und uns nach oben begaben. "Uhmm.. du hast nicht zufälligerweise irgendein Oberteil, das du nicht mehr brauchst? Ich kann mir auch zur Not einen Müllsack überziehen..", meinte ich auf dem Weg ins Gästezimmer und lächelte schief zu ihm zurück. Die Vorstellung von mir in einem Müllsack war echt... speziell.

Glücklicherweise endete ich nicht in einem Müllsack, sondern bekam von Liam ein paar Sachen, um meine einzigen Klamotten, die ich hatte, nicht mit Wandfarbe voll zu kleckern. Mit einem dankbaren Lächeln nahm ich sie entgegen, zog mich, als er sich ebenfalls umziehen gegangen war, schnell um und legte meine Klamotten ordentlich zusammengefaltet vor das Gästezimmer. Am Rand, damit sie nicht direkt vor der Tür lagen. Kurz nachdem ich mich wieder aufgerichtet, und tiefer in den Raum hineingegangen war, tauchte auch schon Liam im Türrahmen auf. Ein niedliches Grinsen legte sich auf meine Lippen und ich bückte mich nach dem Farbeimer, der die helle, orientalisch angehaute, champagner orange Farbe in sich trug. Damit ging ich auf ihn zu, drückte ihm den Eimer in die Hände und biss mir kurz auf die Unterlippe. "Darf ich jetzt Boss spielen?", scherzte ich leise, was die frechere Ader in mir etwas anregte, da ich sie in den Anfangstagen irgendwie.. nicht ganz hatte auskosten können. Abgesehen beim Zocken. "Nur die drei Wände", meinte ich und gestikulierte zu den Wänden, die ich meinte, "Die eine bleibt aber weiß, da kommt.. also.. da probier ich was aus", erklärte ich und presste die Lippen leicht aufeinander. Vorausgesetzt, ich würde das hinkriegen, was ich so im Kopf hatte. "Aber bei den anderen Wänden helf ich trotzdem mit", fügte ich hinzu und lächelte scheinheilig.
Was in einem ordentlichen Streichen begonnen hatte, endete in einem Tumult, den ich angefangen hatte. Irgendwie, ich wusste nicht wieso, hatte ich es so witzig gefunden, wie konzentriert Liam ausgesehen hatte, dass ich ihn unbedingt ablenken gewollt hatte. Angefangen mit kleinen Tupfern daneben, gemündet in Pinselstrichen drüber, und irgendwann hatte ich meine Hand in die Farbe getunkt und auf die Wand geklatscht. Während unserer Wandstreich-Session wurde ich viel offener, Kreativität förderte meinen Spaßfaktor einfach enorm, weshalb wir immens viele Dummheiten anstellten. Und gerade zögerte ich auch nicht mit dem Gedanken, ihm einen fetten Farbabdruck meiner Hand aufs T-Shirt zu drücken. Zumindest sah ich ihn mit diesem Blick an, und das bemerkte er auch. Wiederfinden tat ich mich stattdessen in einem Buddyfight, weil er mir natürlich nicht den freien Vortritt lassen wollte, meine Hand auf seine Brust, seinen Bauch, oder sonst wo zu patzieren, was mich mega zum Lachen brachte. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir die Farbe steht!", meinte ich lachend und versuchte gegen seine Griffe anzukommen. Es machte echt Spaß, mit ihm so viel Scheiße anzustellen.. es war.. befreiend.

Das Kindliche in mir, dass ich deswegen freiließ, weil ich mir sicher war, oder zumindest hoffte, dass mich Liam dadurch nicht verurteilte oder .. als "unerwachsen" betrachtete, schien in vollen Zügen durch jede Faser meines Körpers ausgestrahlt zu werden. Ich war gerne frech, wenn mir jemand eine Steilvorlage dafür bot, und Liam tat das; irgendwann hätte ich mich sowieso öffnen müssen, und... dadurch, dass ich wusste, wo ich bei ihm stand.. keine Ahnung, ich hatte nicht mehr das Gefühl, mich verstecken zu müssen. Ich wollte das auch nicht, sonst.. keine Ahnung, vielleicht würde er ja auch erkennen, dass ich gar nicht so toll war, wie er mich fand. Du hast gesagt, du versuchst dich nicht schlecht zu machen., hallte es in meinem Kopf, und ich konzentrierte mich schnell wieder auf das Wesentliche. Das Wesentliche beinhaltete nämlich, dass ich ihm meinen Plan etwas detaillierter erklärte. "Also.. ich werde nicht alles frei Hand zeichnen, aber ich dachte mir, dass ich morgen Schablonen anfertige, und heute einfach.. irgendwas drauf kleckse, was mir gerade so durch den Kopf geht." Ich sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. "Präzise, ich weiß.. ich stell mir zwar vieles immer bis ins Detail vor, aber der Anfang ist bei mir immer so.. spontan. Und irgendwann entsteht ein Bild.." Das war typisch ich - chaotisch kreativ, und die meisten konnten es nicht nachvollziehen. Die meisten waren eintönig und riskieren irgendwie.. kein einziges Bisschen an Individualität. Und genau das machte mich aus; ich stand wahnsinnig gern auf Individualität. Nicht in meinen Klamotten, nicht in meinem Aussehen, sondern in meiner Kunst.
Liam schien darauf allerdings echt gut einzugehen; auf mich und meinen verrückten Kopf. Als er ein Fragezeichen an die Wand zeichnete, hielt ich kurz inne und wechselte flüchtig einen Blick zwischen ihm und dem Fragezeichen. Meine Finger tanzten über den Rand des Farbeimers, ehe ich meinen Zeigefinger eintunkte, an das Fragezeichen ansetzte, eine zweiten Schwung hinzufügte und - ein Herz daraus formte. Ich hatte aus dem.. Affekt gehandelt, irgendwie, und... als ich das Fragezeichen gesehen hatte, war mir das.. irgendwie so in den Sinn gekommen. Mit einem schüchternem, allerdings verspielten Lächeln sah ich ihn an, doch senkte ich den Blick und pseudo-konzentrierte mich auf die Farbe. Hatte ich das gerade wirklich getan?
Irgendwann konnte ich jedoch nicht mehr ruhig bleiben, und fand mich schon bald in einem freundschaftlichen Fight mit ihm wieder. Ich hatte es oft geschafft, ihm Farbe irgendwohin zu schmieren - allerdings tat er auch sein Werk. Ich hatte lange nicht mehr so gut gelacht, wie ich es gerade eben tat. "Du hast viel mehr Farbe als ich!", beschwerte ich mich lachend, weil er den Eimer direkt neben sich hatte und ich dadurch nicht mehr rankam. Ich konnte mich nur an den Resten der Farbrollen beglücken, oder den Farbklecksen auf dem Boden. Plötzlich schien jedoch der Moment still zu stehen, weil wir uns zum selben Zeitpunkt in die Augen sahen und das.. das war.. es war dieser Blick, der alles in einem zum Schmelzen brachte, und gleichzeitig dafür sorgte, dass jeder Winkel kribbelte. Und genau da fühlte ich mich.. ihm so.. ich wusste auch nicht. Ich hatte wieder das Gefühl, dass es.. einfach passte. Deshalb klang mein Lachen auch langsam ab, ich lehnte mich zu ihm und.. und küsste ihn. Von mir aus. Sanft, gefühlvoll, und.. lange. Meine Lippen schmiegten sich automatisch in geschmeidigen Bewegungen an seinen, und es.. es fühlte sich gut an. Sehr gut sogar.

Langsam wurde mir klar, warum ich mich bei Liam so wohl fühlte, warum ich bei ihm keine Angst hatte, abgelehnt oder darin bemängelt zu werden, was ich tat und wie ich lebte: Er akzeptierte mich, und unterstützte mich auch. Das war.. wahnsinnig beruhigend, und es fühlte sich so.. unfassbar "bestätigend" an, irgendwie. Ich war nicht oft fähig gewesen, meiner kreativen Persönlichkeit freien Lauf zu lassen, ohne dafür kritisiert zu werden; und er nahm es einfach so hin. Einer der vielen Gründe, warum ich... warum ich meine tiefen Empfindungen für ihn nachvollziehen konnte. Und zwar wie. Dadurch war ja das Herz auf der Wand entstanden.
Da ich es gar nicht fair fand, wie viel Farbe er hatte, stupste ich meine Nase, die er mit eben dieser Farbe angetatscht hatte, gegen seine. Damit waren wir quitt, und ich lachte herzlich vor mich hin; bis zu dem Zeitpunkt, wo ich meinen Gefühlen wieder freien Lauf ließ. Ich erinnerte mich daran, dass ich vorhin gesagt hatte, dass ich Zeit brauchte; und genau das verstand ich ehrlich gesagt auch darunter. Ich wollte ausprobieren, wie sich das anfühlte, wollte gucken, wie echt es war und wie richtig es mich berührte.. ich musste herausfinden, ob meine Gefühle so tief waren, dass ich meine Angst zu Scheitern überwältigen könnte. Und gerade eben, gerade eben fühlte es sich so an; als würde nichts anderes zählen als diese frische Annäherungsliebe. Damit dauerte der Kuss, den ich angefangen hatte, länger, endete sanft und trotzdem auf diese zärtliche Weise intensiv, dass mir das Kribbeln über meiner Haut enorm zu Schaffen machte. Es zeigte mir, dass das nicht nur.. dass das einfach abseits von meinen Schüben passierte, dass das, was ich gestern Nacht gefühlt hatte, auch wirklich von mir kam; und bei ihm war das genau der selbe Fall.
Seine Hände an meiner Taille trugen zum Kribbeln nur noch heftiger dazu bei, doch irgendwann blieb es an uns hängen, dass wir weitermachen mussten. So verliebt, wie ich- wir gerade waren, und un benahmen, kamen immer wieder Küsse dazwischen und das war.. echt schön. Darauf ließ ich mich, wenn auch immer etwas zurückhaltender, und dann wieder offener, gerne ein. Und, man mochte es kaum glauben, doch trotz unseren Dummheiten hatten wir alle drei Wände fertig gestrichen. Auf der weißen hatte ich Liam schon dazu gebracht, einen Handabdruck von sich drauf zu machen, und meinen hatte ich direkt daneben gedrückt. Keine Ahnung, wieso ich das gewollt hatte... irgendwie eine echt kindische Idee, aber.. es gefiel mir. Außerdem würde auf dieser Wand noch so viel mehr Stehen, hängen, da würden die Handabdrücke bald gar nicht mehr so krass auffallen. Das Ganze rumstehen, rumtollen und lachen hatte mich dann aber doch etwas erschöpfter gemacht; jedenfalls, was das Stehen anbelangte. Deshalb setzte ich mich auf die Zeitungsunterlage auf den Boden, sah mich um und streckte mich einmal, um meinen Rücken etwas zu entspannen. "Morgen mach ich den Rest.. ich könnte mich gerade echt auf diesen Boden legen..", überlegte ich laut und - ja, weil ich es austesten wollte, ließ ich mich langsam zurückfallen und ich streckte mich nochmal. "Ist eigentlich ganz gemütlich..", meinte ich zu Liam und sah zu ihm hoch, ein kleines, spitzbübisches Lächeln auf den Lippen. Eine gewisse Einladung sollte das schon sein, irgendwie.