"HALT DIE FRESSE DU BASTARD!", brüllte ich und hätte Kenma, der wie aus dem Nichts plötzlich bei mir aufgetaucht war, mich nicht am Arm versucht zurückzuzerren, hätte es jetzt wohl Tote gegeben. Nichts war mehr von meiner eigentlich recht gutmütigen Natur zu erkennen, ich war wie ausgewechselt.
Dieser eine Kommentar, dieser eine stichelnde Kommentar, war wie ein Schlag ins Gesicht und er traf viel tiefer ein, als Leon wohl gedacht hatte. Alle meine Nerven lagen komplett blank, meine Schultern durchlief ein zorniges Beben und ich ballte schon wieder die Fäuste, es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte mich einfach von Kenma losgerissen und Leon Andrews sein hässliches Gesicht eingeschlagen.
Glaub nicht, du kannst ihn ewig vor uns verstecken. Dieser eine Satz drehte sich immer und immer wieder in meinem Kopf und unter den Zorn mischte sich etwas anderes, etwas stärkeres und so viel Betäubenderes: Verzweiflung.
Sie hatten Recht. Natürlich hatten sie Recht, ich würde Kenma nicht vor allem bewahren können. Ich versuchte es, seit wir uns kannten, seit ich das erste Mal einem anderen Jungen für seine abfälligen Bemerkungen eine reingehauen hatte.
Ich bemerkte nicht mal richtig, wie die Wichser sich aus dem Gang verzogen, wie sich einzelne Schülergruppen am Ende und Anfang des Gangs langsam wieder auflösten, das Getuschel sich verflüchtigte.
Plötzlich standen wir wieder in unserem Zimmer und Kenma schloss die Tür hinter sich, stellte sich dann davor, damit ich keine Möglichkeit hatte, Leon und seinen Anhängseln hinterherzurennen, ohne ihn beiseite zu stoßen.
Was ich nicht mal jetzt - nicht mal in diesem Jähzorn - getan hätte. Stumm stand ich vor ihm, sah ihn einfach an, während meine Brust sich rasch hob und senkte und sich mein Atem nur langsam wieder einpendelte.
Erst jetzt bemerkte ich den Schmerz in meiner rechten Hand und entspannte meine Finger, die ich immer noch zur Faust geballt hatte, wieder. Das Blut, was daran haftete, war wohl größtenteils von Leon, doch das leichte Stechen teilte mir mit, dass ich bei diesen Schlägen vielleicht ein wenig übertrieben hatte.
Wortlos wandte ich mich ab, drehte Kenma den Rücken zu um mich vor seinem Blick zu verstecken. Sie lassen uns jetzt in Ruhe.
Nein, nein würden sie nicht. Ein bitterer Zug umspielte meine Lippen, während die ganze Aggression mit einem Mal verschwand, diesem beklemmenden Gefühl der Machtlosigkeit Platz schaffte, die sich in mir ausbreitete.
"Wenn einer von denen dich je wieder schief anschaut...ich verfrachte sie für den Rest ihres Lebens in einen Rollstuhl, das versprech ich dir.", knurrte ich und öffnete die Tür zu dem kleinen Bad, das zu unserem Zimmer gehörte, um mir das Blut von den Händen zu waschen.
"Nein, ist alles ok.", schnitt ich dann seine Fragen ab und presste die Lippen aufeinander.
Glaub nicht, du kannst ihn ewig vor uns verstecken.

Ich konnte es nicht begreifen.. das konnte ich nie. Kuroo tat so viel für mich, er verteidigte mich bis aufs Messer und ich.. ich konnte nicht angemessen reagieren. Warum war ich schwach, feige, nicht fähig mich zu verteidigen - dann müsste er sich nicht damit rumschlagen, wortwörtlich. Ich vermied jegliche Art von Konflikten viel lieber, ließ mich eher erniedrigen als für mich einzustehen - aber er? Er stand nicht nur hinter, sondern vor mir. Immer. Ohne, dass ich ihn jemals darum hätte bitten müssen.
Ich konnte mich nicht verteidigen, und Kuroo wusste das. Deswegen tat er es auch. Er lieferte sich selbst Konflikten aus, die ihn eigentlich nicht involvierten.. solange, bis er selbst eingriff. Und wie so oft lag mir eine Frage, die ich ihm noch nie gestellt hatte, wahnsinnig nahe auf der Zunge: Wieso tust du das für mich?
Als er mit dem Rücken zu mir stand, durchbrach ein fast schon trauriger Zug meine Miene. Mein Blick folgte seinen Schritten ins Badezimmer, bevor ich mich gegen die Tür lehnte und nur stillschweigend vor mich hinstarrte. Ich hasste Komplikationen. Ich hasste Menschen wie Leon. Ich hasste es der Grund zu sein, warum Kuroos Stimmung in ein riesiges Tief sinken konnte.
Weil du dich nicht verteidigen kannst. Die Weile des Schweigens verging, als ich den Kopf wieder hob und in Richtung Badezimmer blickte. Ich wusste, dass ich ihn niemals fragen würde, wieso er das für mich tat. Nicht, weil ich die Antwort nicht wissen wollte, oder weil ich Angst vor dieser Antwort hatte; sondern weil ich ihm nicht das Gefühl geben wollte, undankbar dafür zu sein. Es anzuzweifeln, dass er für mich einstand. Er würde ihn vielleicht sogar.. verletzen.. und das wollte ich auf keinen Fall.
Er bedeutete mir zu viel. Und diese Art von Bedeutung hatte ich noch nie bei jemandem verspürt.
"....Kuroo?" Ich wartete darauf, dass er mit antwortete. Oder rauskam. Oder.. irgendein Zeichen gab. Langsam drückte ich mich von der Tür weg und ging in seine Richtung. Und als er rauskam und mich ansah, tat etwas in meinem Inneren.. weh. Kommentarlos, ohne jegliche Regung im Gesicht, kam ich ihm bis auf den letzten Schritt entgegen und umarmte ihn. Er war größer als ich, um fast mehr als einen ganzen Kopf, aber das hinderte mich nicht daran, ihn auf Bauchhöhe zu umarmen. "Mir geht's gut", sagte ich leise, eine Antwort auf die Frage, die er nicht gestellt hatte.

Mechanisch wusch ich mir Leons Blut von den Händen, sah dabei zu wie es im Abfluss verschwand, ohne das Gesehene wirklich in ein Bild zusammenzusetzen. Wie in Trance hörte ich den Blonden immer und immer wieder diesen einen Satz sagen und die Haut über meinen Kieferknochen begann leicht zu spannen als sich mein ganzes Gesicht dabei verhärtete.
Kurz sah ich in den Spiegel, dieser aggressive Ausdruck in meinen Augen passte nicht zu mir, war so unüblich für mich, dass ich mich fast selbst nicht erkannte. Was tat ich hier eigentlich und wieso hatte ich keine Spur Selbstkontrolle, keinerlei Vernunft wenn es um Kenma ging?
Es war als würde er einfach alle meine Prinzipien, alles, was mich ausmachte, über den Haufen werfen, sie von mir losreißen und mich so hilflos und machtlos zurücklassen, wie ich in Wirklichkeit war.
Dieser kleine Zwischenfall mit Leon würde nämlich nichts nützen. Gegen Typen wie ihn musste man ein extremeres Zeichen setzen, oder sie verstanden nicht, wann Schluss war. Mit meiner Aktion eben hatte ich Leon eher den Krieg erklärt als ihn davon abzuhalten, Kenma zu drangsalieren.
Es wäre besser gewesen, ihn einfach machen zu lassen...so wie Kenma. Ihn einfach zu ignorieren, bis ihm langweilig wurde und er sich jemand neues zum Mobben suchte.
Doch ich funktionierte nicht so. Ich hatte noch nie so funktioniert. Ich hatte noch nie wegsehen können, wenn solche Typen sich einen Spaß daraus machten, andere Leute zu schikanieren.
Und wer versuchte Kenma, dem Menschen, den ich am allermeisten auf dieser Welt wertschätzte, zu schaden...der lernte eine Seite von mir kennen, die brutal und gewalttätig war.
"Kuroo?" Ich hob den Kopf, sagte jedoch kein Wort, sondern verließ das Bad ohne Weiteres und streifte Kenma nur kurz mit meinem Blick. Der Drang, mich irgendwo zu verziehen und mir ein ganzes Päckchen Kippen reinzuziehen oder irgendwas Stärkeres am besten begann sich in meinem Kopf zu formen und ich steuerte - die Hände in den Hosentaschen - mein Bett an, um mich einfach kommentarlos darauf breitzumachen, als Kenma sich mir ein zweites Mal in den Weg stellte, dann etwas tat, mit dem ich nie gerechnet hätte.
Er schloss einfach die Arme um mich, lehnte seinen Kopf gegen meine Schulter und hielt mich fest. Eine Sekunde stand ich einfach nur da, komplett überrumpelt von dieser Aktion, bevor ich mein Kinn auf seinen dunklen Haaren bettete und meine Arme um diesen schmalen Körper legte, eine Hand in seinen Nacken schob.
Ein ganz anderer, unschuldiger Drang schob den Gedanken an Zigaretten beiseite und mir wurde wieder klar, wie stark meine Gefühle für Kenma waren. Wie sehr ich ihn einfach gerne geküsst, ihm gezeigt hätte, wieviel er mir tatsächlich bedeutete und wieso ich mich für ihn immer und immer wieder ins Kreuzfeuer stürzte.
Und wie grausam es eigentlich war, wie sehr ich versuchte, diese Gefühle zu unterdrücken.
"Es tut mir Leid.", meinte ich leise und schloss die Augen, atmete den Geruch von Kenmas Shampoo ein. Es widerstrebte mir so sehr, ihn loszulassen, von mir aus hätte jetzt einfach die Zeit stehen bleiben können.

Umarmungen. Etwas, was ich unter anderen Umständen nie wirklich tat. Neben diverser, diagnostizierten Phobien, gehörte eine ebenfalls grundlegend dazu: Die Berührungsangst. Zwar war sie nicht so stark ausgeprägt wie meine Klaustrophobie, die es mir unmöglich machte in einem kleinen Raum ohne Fenster überhaupt gescheit atmen zu können - geschweigedenn von einem Nervenzusammenbruch mal abgesehen-, aber ich fühlte mich unglaublich unwohl, wenn mich jemand berührte. Ausnahmen bildeten meine Teamkameraden, und natürlich an erster Stelle Kuroo.
So wie es auch jetzt der Fall gewesen war. Der Impuls war einfach gekommen, ich wollte meinen besten Freund umarmen.. wollte ihn wissen lassen, wie sehr ich ihn lieb hatte. Wie wichtig er für mich, und wie dankbar ich für diese enge, tiefe Freundschaft war. Wahrscheinlich, weil er mich bestens kannte, überraschte ihn meine Umarmung - jedenfalls im ersten Moment. Im Zweiten spürte ich Geborgenheit, die von seinen Armen, seinem Körper ausging. Ich fühlte mich sicher. Und das würde ich, an seiner Seite, und in seinen Armen, immer tun - mich sicher fühlen.
Ich lauschte seinen leisen Worten, antwortete jedoch vorerst nichts. Besser gesagt brachte es mich innerlich kurz zum Stocken. Er sollte sich.. nicht entschuldigen.. wieso entschuldigte er sich? Meine Arme festigten sich ein wenig, meine Fingerkuppeln, die unter den Hoodieärmeln gerade noch rausguckten, strichen etwas über den Stoff seines Pullis. Die Umarmung sollte ihren Zweck erfüllen, ihn zu trösten, ihn von den zornigen Gedanken abzubringen - aber gleichzeitig merkte ich, dass es mich.. auch tröstete. Schließlich konnte ich die Worte, die an mich gerichtet worden waren, nicht komplett aus meinem Kopf verbannen.
Ohne ihn loszulassen, hob ich den Kopf leicht und blickte zu ihm auf. Mir wurde ganz warm, mein Herz schlug etwas schneller, was ich nicht wirklich realisierte. Zumindest verband ich es mit der Geborgenheit.. ich würde sie bei ihm immer finden. "Du bedeutest mir auch viel, Kuroo." Er passte auf mich auf, wie ein großer Bruder.. nur war er mehr als ein Bruder, selbst wenn ich nicht wusste, was 'mehr' alles beinhalten könnte.
Ich ging auf die Zehnspitzen und drückte ihm einen leichten, kaum spürbaren Wangenkuss auf, bevor ich mich aus der Umarmung löste. Es würde niemals jemanden geben, der mir Kuroo ersetzen könnte. Meine Augen glitten zu seiner Hand, die noch etwas mitgenommen von den Schlägen aussah. "Ich will nicht, dass du dir für mich weh tust..", murmelte ich.