Wer?: Gale & Cressida
Datum?: kurz nach der erfolgreichen Revolution
Ort/Raum?: im ganzen Distrikt (Ausflüge ins Kapitol möglich)
Was soll etwa passieren?: Gale & Cressida werden aus dem alten Team um Katniss nach Distrikt 2 geschickt um den Distrikt neu aufzubauen und das zu dokumentieren. Natürlich sind die beiden so auch weiterhin ständig zusammen und diesmal ohne das alte Team und mit tiefen Wunden in ihren Herzen.
Raiting?: FSK 14

Die Schultern zusammen gesackt, die Arme auf die Fensterbank gelehnt und die Kamera in der Hand stand Cressida in dem Haus, dass man ihr, Gale und noch zwei weiteren des Teams gegeben hatte, an einem Fenster und betrachtete ein paar Aufnahmen. Erst waren es die Aufnahmen des Tages gewesen, aber sie hatte wohl vergessen die früheren Aufnahmen zu löschen und jetzt zeigte es die Aufnahme eines wunderschönen Vogels der auf einem Ast saß und von dort über den See flog. Im Hintergrund das Wasserrauschen gepaart mit leisem Rascheln und Vogelgezwitscher. Melodien des Sommers. Bilder von Pollux. Sie hätte es wirklich löschen sollen, denn obwohl man bei ihr keine Tränen sah, fühlte sich ihr Herz an, als würde es noch weiter zerbrechen und als würden sich die Splitter in ihre Lunge graben um ihr den Atem zu nehmen. Sie hasste dieses Gefühl und sie sollte aufhören darüber nachzudenken, aber sie konnte nicht und sie konnte auch nicht ausmachen.

Gerade kam Gale aus der Küche, wo er ein Glas Wasser getrunken hatte, und wollte sich auf den Weg in sein Zimmer machen, um sich ein wenig von seinem anstrengenden Tag auszuruhen, als er im Flur des oberen Stockwerkes Cressida an einem der Fenster entdeckte. Die Blondine hielt eine kleine Kamera in den Händen und schien sich irgendwelche Aufnahmen anzusehen. Von seinem Standpunkt aus wirkte sie beinahe wie ein normaler Distriktbewohner. Es gab nur wenige, winzige Anzeichen dafür, dass sie tatsächlich aus dem Kapitol stammte. Gale wusste jedoch, dass er, wenn er von links gekommen wäre, ganz genau ihren Sidecut und die goldenen Rankentattoos gesehen hätte, die von ihrem Kopf bis auf ihren Arm reichten.
Ohne auch nur ein Geräusch zu machen, lief er in ihre Richtung. Beim Jagen und während des Krieges im Kapitol hatte er gelernt, leise zu laufen und mittlerweile hatte sich dies so sehr in seinem Kopf verankert, dass er noch immer auf jeden Schritt achtete, den er machte, als könne er jederzeit irgendwo eine Kapsel auslösen. Der Dunkelhaarige blieb schließlich unbemerkt hinter ihr stehen und schaute der Kleineren über die Schulter, sodass auch er sehen konnte, was auf dem Display abgespielt wurde. Er verzog das Gesicht. Warum stocherte sie so sehr in den Wunden herum? Er konnte das einfach nicht nachvollziehen, denn er verdrängte bestmöglich jeden Gedanken an Katniss, Peeta oder den Krieg an sich. Manchmal schrieb er Briefe und schickte sie nach Distrikt 12, aber sonst erlaubte er sich keinen Gedanken an das, was in der Vergangenheit passiert war, auch wenn es dennoch ständig präsent war. Jedenfalls nicht am Tag, denn in der Nacht kamen oft die Albträume, gegen die er nichts tun konnte, und aus denen endlose schlaflose Stunden resultierten.

Eigentlich hätte Cressida gedacht, dass sie, nach all der Zeit bei den Rebellen und im mit Minenüberzogenen Kapitol, so vorsichtig gewesen war, dass sich nichts mehr unbemerkt an sie heran schleichen konnte. Normalerweise wäre das vielleicht auch nicht der Fall gewesen, aber im Moment war sie viel zu versunken in die Schönheit, die ihr so viel Schreckliches in Gedächtnis rief. Wie konnte es sein, dass gleichzeitig so schönes und so schlimmes existieren konnte?
Gerade war sie in die Aufnahme eines kleinen, singenden Vogels vertieft, als sie durch ein Atemgeräusch in ihrem Rücken so plötzlich aus ihrer Konzentration gerissen wurde, dass sie für einen Moment wirklich zusammen zuckte. Ihre Hand legte sich ganz automatisch an die Waffe, ohne die sie nicht mehr aus dem Bett stieg, obwohl sie jetzt in Friedenszeiten lebten und hätte sie gemusst, hätte sie sie auch benutzt. Aber hinter ihr stand jemand, den sie mittlerweile nur zu gut kannte. "Gale.", sagte sie und für einen Moment konnte man den Schreck noch aus ihrer Stimme hören, doch als sie sich ganz umgedreht hatte, war nichts mehr davon zu sehen. Auch die Kamera hatte sie schnell ausgeschalten. "Was machst du hier?" Na schön eigentlich war das eine eher blöde Frage, immerhin war das hier auch sein Haus. Fürs erste. "Wir haben heute wirklich gute Aufnahmen gemacht. Ich denke wir sollten morgen mal die Reste von der Nuss besichtigen, dann kannst du da deinen neuen Plan erklären." Fast sofort schaltete sie in den Modus der Regisseurin. Sie leistete sich nie irgendeine Schwäche vor irgendjemandem.

Sofort bemerkte Gale den kurzen Schreck, der der Blondinen in die Glieder fuhr, als sie ihn bemerkte und er fühlte sich direkt ein wenig schuldig. Es war nicht so eine gute Idee gewesen, sich einfach ohne Vorwarnung zu ihr zu stellen. Gerade er hätte es eigentlich besser wissen müssen.
Als sie sich zu ihm umdrehte, war jedoch rein gar nichts mehr davon zu sehen, sie hatte diesen glatten, professionellen Blick wie immer drauf, weshalb er auch nichts dazu sagte. "Tut mir leid für's Anschleichen", meinte er dann dennoch schulterzuckend, schließlich war das so oder so doof von ihm gewesen. Dann mühte er sich ein müdes Grinsen ab. "Ich wohne zufällig hier, falls du das noch nicht wusstest", meinte er dann. Er verschränkte die Arme vor der durchtrainierten Brust und lehnte sich seitlich an die Wand neben dem Fenster, während er weiter zu ihr hinunter blickte. Der Dunkelhaarige sagte nichts zu den Videos, die sie sich eben angesehen hatte. Das war eine unausgesprochene Regel zwischen ihnen beiden - man sprach den anderen nicht auf seine Gefühle oder irgendetwas anderes an, das den Krieg betraf. Sie waren im Prinzip diejenigen, die aus dem Star Squad noch übrig waren, jedenfalls abgesehen von Katniss und Peeta. Irgendwie entwickelte man da ein gewisses Verständnis füreinander, kanne sich zu gut und gewöhnte sich an den anderen. Cressida wusste, dass sie mit ihm reden konnte, aber er würde sie nicht darauf ansprechen und umgekehrt. "Klingt doch nach einer guten Idee, da kann man bestimmt ein paar ganz gute Aufnahmen machen", meinte er dann schulterzuckend. Was diese Dinge anging, verließ er sich einfach auf Cressidas Wissen und ihre Erfahrung. Manchmal brachte er ein paar Ideen ein, eigentlich war er jedoch einfach nur das Gesicht des Ganzen, weil irgendjemand es wohl für eine gute Idee gehalten hatte, gerade ihn vor die Kamera zu stellen, weil er eben ein bekannter Teil der Revolution gewesen war und angeblich eine gewisse Kamerapräsenz hatte.

Cressida war sich eigentlich mehr als sicher, dass Gale es bemerkt hatte. Er war Jäger und danach einer der besten Soldaten der Rebellen. Alle, die ihr Vertrauen in ihn gesetzt hatten, hätten falsch gelegen, wenn er so etwas nicht bemerken würde, aber Cressida wusste gleichzeitig, dass er sie nicht darauf ansprechen würde. Nicht direkt zumindest. "War nur abgelenkt.", meinte sie mit dem gleichen Schulter zucken und setzte sich dann mit einer schnellen Bewegung auf die Fensterbank, wobei sie sich so drehte, dass sie zu einer Seite nach draußen sehen konnte, ihn aber trotzdem nicht aus den Augen verlor, als er sich gegen die Wand lehnte. "Schon klar.", sagte Cressida gelassen und immer noch so locker wie immer. Auch wenn sie innerlich das Gefühl hatte am liebsten rückwärts aus dem Fenster zu kippen. Das war eine Frage, die eigentlich nicht zu ihrem sonstigen Verhalten passte. Sie war analysierend und sie vergaß so etwas nicht mal einen kurzen Moment nur.. in den letzten Monaten hatte sich alles geändert. Nicht die großen Dinge, sondern auch die ganzen Kleinigkeiten in einem selber. Vorher hatte sie von dem Leid gesehen, aber seit sie als Regisseurin in den Star Trupp gegangen war und dann für Katniss Partei ergriffen hatte, spätestens da, hatte sie alles am eigenen Leib erfahren. Natürlich hatte sie gewusst, worauf sie sich einließ und auch die ganzen Geschichten, die sie gefilmt hatte, während sie mit Katniss unterwegs gewesen war, hatten sie tief bewegt, aber es war eben doch noch mal etwas ganz anderes persönlich betroffen zu sein. Nur.. sprach sie so etwas immer noch nicht an. Vor niemandem. Pollux wusste es, weil er wegen Castor genauso fühlte und Gale ahnte ganz sicher etwas, weil er die Gefühle kannte, aber ich sprach es nicht aus.
Fast ein wenig abwesend nickte ich. "Ja sicher. Ich muss nur noch rausbekommen, an welchen Stellen du dich gefahrlos aufhalten kannst. Der Berg ist immer noch ganz schön brüchig.", redete sie vor sich, bevor sich ihr Blick auf die Kamera senkte und sie diese einen Moment hin und her drehte, als wüsste sie nicht, was sie damit tun sollte. "Findest du das nicht merkwürdig? Ich meine.. Snow ist eingesperrt und zum Tode verurteilt, alle Mittäter werden vor Gericht gebracht und Coin organisiert Panem neu, aber trotzdem stehen wir hier und drehen einen Film um die Moral der Leute aufrecht zu erhalten. Wir müssen es nur im richtigen Blickwinkel darstellen, meinte Plutarch. Das erste Mal hat er das gesagt, bevor ich Katniss getroffen habe, das zweite Mal, bevor ich mit dir hier her bin."

Gale nickte kurz. "Ich weiß", sagte er, auch wenn das nicht stimmte. Er selbst hätte vermutlich ähnlich reagiert, jedoch hatte er keine Lust dazu, ihre Reaktion anzusprechen, die ganz sicher aus dem Erlebten im Krieg resultierte. Früher hatte ihn selbst kaum etwas erschüttern können. Zwar war er immer achtsam und auf der Hut gewesen, um ihm jedoch wirklich Angst zu machen, hatte es einiges gebraucht. Mittlerweile reichte schon ein lautes Türenknallen, damit der junge Mann zusammenzuckte oder aber panisch aus dem Schlaf gerissen wurde. Das Schlimmste waren jedoch nicht die Erinnerungen an den Krieg, die ihn bereits mit blanker Panik erfüllten. Das Schlimmste waren die Gesichter von Katniss und Prim, die er jedes Mal, wenn er die Augen schloss, vor sich sah. Sein rational denkender Verstand wusste, dass er nicht Schuld an Prims Tod war. Ja, die ausschlaggebende Idee zu der Bombe, die die kleine Schwester seiner einst besten Freundin getötet hatten, war von ihm gekommen. Dennoch hatte er das Ganze weder entwickelt, noch den Befehl dazu gegeben, sie einzusetzen oder gar gewusst, was damit passieren würde. Sein Herz und sein Gewissen versuchten jedoch, ihm etwas anderes einzureden. Täglich plagten den Dunkelhaarigen schwere Schuldgefühle und er hatte auch sonst das Gefühl, dass beinahe jeder, den er kannte, ihn als schuldig betrachtete.
"Das sollte nicht allzu schwierig werden", meinte er dann leicht nickend. Den Teil darüber, dass es ihn kaum interessiert hätte, wenn er einfach unter dem Gestein des Berges begraben worden wäre, ließ er einfach weg. Es war seltsam. Der Krieg war vorbei, die Situation in Panem besserte sich und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Snow endgültig von der Bildfläche verschwinden würde und trotzdem hatte Gale das Gefühl, dass der schlimmste Teil gerade erst anfing. Im Krieg selbst hatte er kaum die Möglichkeit gehabt, alles zu verarbeiten oder sich mit irgendetwas genauer auseinanderzusetzen. Er hatte funktionieren müssen, wie eine Maschine, er hatte schnell reagieren, handeln und denken müssen, ohne großartig alles abzuwägen und vielleicht war das der Grund, warum viele Außenstehende seine Handlungen teilweise nicht nachvollziehen konnten. Man hielt ihn für grausam und brutal und rücksichtslos - doch er war es nur gewesen, weil der Krieg und seine Rolle darin ihm genau das abverlangt hatten. Jetzt hatte er plötzlich Zeit, sich mit allem Verganenen genauer zu beschäftigen, was für ihn persönlich der schrecklichste Part von allen war.
"Manchmal hab ich das Gefühl, dass die jetzige Regierung den Leuten genauso ins Gesicht lügt, wie Snow. Ich meine, warum drehen wir immer noch blöde Propos, wenn wir uns so viel Mühe dabei gegeben haben, genau diese Lügen endlich zu beseitigen? Wozu haben wir all diese Opfer gebracht, um dann doch genauso wie vorher weiterzumachen? Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob Coin wirklich die besten Absichten hat. Und Plutarch wird wohl nie ganz aus seiner Rolle als Spielemacher oder Fädenzieher oder wie auch immer man es nennen will rauskommen, dazu ist er daran viel zu sehr gewöhnt."

Cressida nickte nur, hatte aber keine Lust mehr weiter darüber zu reden. Es war genug passiert in der letzten Zeit. Sie wollte einfach nicht mehr darüber nachdenken und sie wollte nicht bei jedem Schritt, jedem Husten, jedem lauten Geräusch zusammen zucken. Und sie wollte Nachts nicht mehr sehen, wie Castor getötet wurde oder wie Messalla von diesem Licht gefangen wurde. Oder wie all die Bomben die kleinen Kinder und rettenden Ärzte zerfetzten. Es gab nur wenige Leute, denen sie wirklich die Schuld an all dem gab. Snow, den Spielmachern und Coin. Sie hatten diese Sachen entwickelt oder tatsächlich eingesetzt. Natürlich hätte sich auch jeder Soldat anders entscheiden können, aber Cressida war sich mittlerweile sicher, dass diese Soldaten schlimmeres als der Tod erwartet hätte. Egal auf welcher Seite und aus diesem Grund, waren es die Machthaber, die sie für all Zeit als die Schuldigen in ihrem Kopf behalten würde. Auch wenn es um die Bomben ging, denn eines war klar: Zu dieser Zeit hatten Soldaten Gale gefangen gehalten und als sie von Distrikt 13 hier her gekommen waren, war der Plan der Bomben eine Tüftelei gewesen. Nichts weiter. Es war nicht einmal ein richtiger Plan gewesen.
Gerade als sie darüber nachdachte wurde ihr bewusst, dass sie Gale das nie gesagt hatte und kurz wollte sie es ihm sagen, aber dann schob sie es doch zur Seite. So wenig wie er sie auf irgendetwas ansprach, so wenig würde sie ihn auf so etwas ansprechen. Noch nicht. Irgendwann würde der richtige Zeitpunkt schon kommen und Gale sollte sowieso wissen, dass sie auf seiner Seite stand.
"Das klappt sicher.", stimmte sie Gale zu und musterte ihn für einen Moment, ehe sie wieder aus dem Fenster sah. Katniss hatte recht. Wenn sie nicht so selbstsüchtig wäre, wären Messalla und Castor sicher noch am Leben. Aber vielleicht wäre Gale dann tot. Cressida war zu weit weg gewesen um alles zu erkennen, aber sie hatte gesehen, dass Katniss ganz in der Nähe gewesen war, als Gale, ohne seine Nachtriegelpille, von den Friedenswächtern gefangen genommen worden war und wenn Katniss nicht selbstsüchtig gewesen wäre, hätte sie ihn umgebracht. Cressida hätte es vermutlich getan. Oder sie hätte alles dafür getan, um ihn wieder zu befreien. Nur war sie zu spät gewesen und kurz danach war die Hölle los gebrochen.
Nichts von diesen Gedanken sah man ihr wirklich an, denn darin war sie zu gut, aber für einen Moment wirkte sie nachdenklicher als sonst, bevor sie sich wieder fing.
"Jaa. Wir häufen Lügen, über Lügen, über Lügen. Pollux und Castor hatten immer ein Talent dafür die Wahrheit einzufangen. Etwas so zu sehen, wie es wirklich war, deswegen hab ich sie mitgenommen. Ich wollte den Leuten zeigen, wie es wirklich ist, auf meine Weise. Irgendwie hat es auch funktioniert, bis Coin und Plutarch angefangen haben die Aufnahmen auseinander zu nehmen und Sachen zu verdrehen. Bilder so zusammen zu schneiden, dass sie etwas neues ergeben und jetzt soll ich das machen.", sagte Cressida, wobei sie die Stirn runzelte und aus dem Fenster starrte. Kurz saß sie nur so da, dann hob sie die Hand mit der Kamera, startete sie und filmte erst Gale, dann sich selbst, bevor sie aus dem Fenster filmte. Ausnahmsweise zeigte sie nicht den Wideraufbau, sondern die Zerstörung. "Wir sollten abwarten, bis Snow tot ist, aber ich lasse nicht zu, dass so etwas noch mal passiert.", sagte sie, während die Kamera noch immer lief.

Ein wenig unschlüssig fuhr Gale sich durch das dunkle Haar. Er hatte es kurz vor ihrem Einsatz im Kapitol kürzer schneiden lassen, jedoch hatte es mittlerweile wieder die gewohnte Länge erreicht. Da sie für die Regierung arbeiteten, wurden sie natürlich nur mit dem Besten vom Besten versorgt, darunter fielen auch Shampoo und andere Hygieneartikel. Seine Haare waren jetzt für gewöhnlich viel weicher als sie es früher gewesen waren. Damals hatten sie nur selten fließend Wasser gehabt und die ständige Arbeit unter Tage hatte es auch nicht gerade besser gemacht. Generell war seine grundsätzliche Lebenssituation jetzt so viel besser - und doch fühlte er sich kein Stück, als sei alles gut geworden. Irgendwo, tief in seinem Inneren, hatte er immer gehofft, dass mit dem Ende des Krieges alles besser werden würde, dass er dann bemerken würde, dass sich alles gelohnt hatte. Aber jetzt? Rein gar nichts.
Eines der wenigen guten Dinge war, dass seine Familie es jetzt so viel besser hatte. Seine Mutter und seine kleinen Geschwister verdienten das und er musste sich nicht mehr ständig Sorgen um sie machen - was nicht hieß, dass er es nicht trotzdem tat. Was ihm außerdem Kopfzerbrechen bereitete, war die Frage danach, was mit Katniss war, und vor allem, wie sie auf ihn reagieren würde, nach allem, was passiert war. Gale hatte sich mittlerweile eingestanden, dass es keinen Sinn machte, sich noch Hoffnungen zu machen, weshalb er schon seit längerer Zeit mit gebrochenem Herzen lebte.
"Denk ich auch", meinte er nur knapp. Er legte leicht den Kopf schief und lehnte seine Schläfe gegen die Wand. Er musterte die Blondine von der Seite, während sie aus dem Fenster blickte. Sie war ernster geworden und ihr schiefes Halbgrinsen zierte ihr Gesicht nicht mehr halb so oft wie zu dem Zeitpunkt, an dem er sie kennengelernt hatte. Viele hielten sie für etwa Mitte bis Ende zwanzig, aber wenn man sie genau ansah, die Tattoos aus dem Kapitol ignorierte, bemerkte man, wie jung sie eigentlich war. Cressida war kaum älter als er selbst, lediglich ein paar Monate, jedoch hatte das Erlebte sie irgendwie altern lassen. Doch in Momenten wie diesen, wenn sie unter sich waren, und die Blondine das Gefühl hatte, niemand würde sie beobachten, kam immer wieder das innere Mädchen in ihr heraus. Zwar war die Regisseurin noch immer taff, aber nicht halb so taff, wie die meisten immer erwarteten. Irgendwo, unter dem rasierten Schädel, den auffälligen Tattoos und der makellosen, jungen Haut, war auch sie nur ein junger Mensch, dem viel zu früh alles genommen worden war. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich und doch hatte ihr der Krieg einen so riesigen Teil davon weggenommen. Und er bewunderte sie, wirklich. Für alles. Vor allem für ihre Entscheidung, das Kapitol zu verlassen, denn auch wenn es die richtige gewesen war, so hatte es sich dabei definitiv nicht um die einfache gehandelt.
Gale atmete tief durch. Cressida sprach fast nie über Castor und auch kaum über Pollux, weil dieser natürlich in unmittelbarer Verbindung zu Castor stand. Ihr Verlust tat ihm leid und im ersten Moment wollte er ihr das auch sagen, jedoch war das einfach nicht ihr Ding. Sie verstanden einander so, aber reden taten sie darüber nicht. "Dann machen wir das eben auch. Ich meine, wir haben das doch in der Hand. Und wenn wir ihnen das entsprechende Material liefern, können sie kaum noch etwas verdrehen. Außerdem, ohne dich und deine Arbeit sind die sowieso aufgeschmissen, also warum machst du nicht einfach, was du willst?" Der Dunkelhaarige zuckte mit den Schultern. Er war es leid, sich immer herumkommandieren und an der Nase herumführen zu lassen. Immerhin sollten sie den Aufbau dokumentieren, den Menschen nahebringen, was wirklich in Panem passierte und nicht irgendwelchen Mist verzapfen, den vermutlich sowieso keiner glauben würde. "Ich will nicht, dass wir werden wie sie", sagte er dann mit ruhiger, aber bestimmter Stimme. Er blickte hinab auf die Kamera, mit der Cressida nun aus dem Fenster filmte. Ihm war zuerst gar nicht aufgefallen, dass sie etwas aufnahm. Die Menschen in Panem verdienten es, zu erfahren, was wirklich los war.

Cressida merkte, dass Gale sie von der Seite aus beobachtete, immerhin ließ auch sie ihn nicht wirklich aus den Augen. Es war kein Misstrauen, immerhin war er auf dieser Welt mittlerweile, zusammen mit Pollux, der einzige, dem sie tatsächlich vertraute. Irgendwie war das fast lustig, denn immerhin stammten sie aus völlig unterschiedlichen Umgebungen und trotzdem verstanden sie sich fast blind. Vielleicht verstand sie ihn manchmal sogar mehr als er sie, denn sie hatte mehr Zeit gehabt um ihn zu beobachten. Als Regisseurin, aber auch einfach so, wenn er mit Katniss beschäftigt war und danach dann immer stundelang auf den Bildschirmen um alles zusammen zu fügen. So war es ihr auch mit den anderen ergangen und sie hatte sowieso eine gute Menschenkenntnis, aber bei Gale war es nochmal anders. Peeta war früher der lustige Charmeur gewesen. Perfekt vor der Kamera, egal ob man ihm jetzt einen Text vorgab oder er von sich aus redete. Katniss war keine gute Schauspielerin, aber wenn sie sie selbst war, war sie unglaublich inspirierend und mitreißend. Finnick war ein Mädchenschwarm, der, wenn er ernste Töne anschlug, damit so überraschte, dass man ihm einfach zuhören musste. Gale dagegen ging unter die Haut. Er redete nicht viel, aber wenn, dann war er so persönlich und so mitten drin, dass sogar sie selbst manchmal eine Gänsehaut bekam. Wie damals in Distrikt 12, als er seine Geschichte erzählt hatte.
Vorher war er für sie einfach nur Katniss Begleiter gewesen. Mutig natürlich und gutaussehend! Perfektes Kameramaterial um Katniss zu unterstützen. Aber als er in Distrikt 12 angefangen hatte zu sprechen, hatte sich ihre Sichtweise geändert. Er war nicht nur mutig, gutaussehend und Katniss Unterstützung. Er war zudem auch unglaublich selbst aufopfernd. Es war dieser Moment gewesen, der für Cressida alle anderen Momente gerechtfertigt hatte. Jemand der so sehr mit anderen mitlitt musste irgendwann einfach so wütend werden, dass all Gegner zu einem Feind verschmolzen. Deshalb hatte sie bei seinem Vorschlag mit der Nuss damals auch nicht mal mit der Wimper gezuckt. Mit den Kindern war es etwas anderes. Junges, unschuldiges Leben zählte für ihn noch mehr. Genauso wie für Cressida. Sie hätte kaum etwas anders gemacht als er, wenn sie in dieser Situation gewesen wäre. Sie wusste aber auch, dass sie, wenn sie in dieser Situation gewesen wäre, noch mehr an sich gedacht hätte, als Gale es getan hatte. Natürlich hätte sie versucht ihre Liebsten zu retten und sie wäre los um andere zu warnen, aber sie hätte sich nicht auf so eine große Gruppe konzentrieren können, wenn sie selbst innerlich zerbrach. Gale konnte so etwas. Er konnte im Rampenlicht stehen ohne geblendet zu werden. Vermutlich sah er auch deswegen mehr von ihr, als die meisten anderen und vermutlich gab sie sich deshalb bei ihm nicht immer so viel Mühe wie vor dem Rest der Welt.
Sie hörte, wie er durchatmete und wusste, was er sagen wollte und sie war froh, dass er es nicht tat. Stattdessen sagte er etwas anderes. Etwas, dass wieder einmal tiefer ging als die Worte von anderen. Ganz kurz sah sie nur nach draußen und überlegte, aber bei seinen letzten Worten richtete sie die Kamera auf ihn, sah ihn dann ernst an und nickte. "Gut. Dann sind wir nicht wie sie. Dann zeigen wir den Leuten, was wirklich passiert. Was wir hier tun und wir hören auf mit diesen lächerlichen Skripts. Die stehen dir sowieso nicht. Du bist viel besser, wenn du sagst, was du siehst und was du denkst.", sagte sie und jetzt kam ihr schiefes Grinsen zurück. "Wir geben ihnen ja nur, was sie verlangt haben! Alles, was hilft, aus unserer Sicht!", stellte sie fest. Genau das wollte sie. Sie wollte wieder sie selbst sein und sie wollte Messalla und Castor gerecht werden, weil sie sonst umsonst gestorben wären. In Gale hatte sie da offensichtlich genau den richtigen Verbündeten.

Leise seufzend stieß Gale sich von der Wand ab, stellte sich schließlich neben Cressida und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Fensterbank ab. Das Wetter draußen war recht mild, auch wenn der Tag sich langsam seinem Ende zuneigte. Früher hatte er diese Tageszeit immer gemocht. Sie bedeutete, dass man wieder einen Tag überstanden hatte und zur Ruhe kommen konnte. Normalerweise wäre er ungefähr um diese Zeit mit Katniss von der Jagd zurückgekehrt, - abgesehen von seiner Zeit im Bergwerk, natürlich - hätte noch einen Abstecher zum Hob gemacht, dann alles gerecht aufgeteilt und sich über die strahlenden Augen seiner Familie gefreut, weil sie wieder einen Tag nicht hungern mussten. Stattdessen war er hier und bekam die meiste Zeit kaum etwas runter und aß ansonsten auch nur, um nicht weiter aufzufallen. Jetzt bedeuten Abende, dass die Nächte immer näher rückten und die Nächte waren immer das, was Gale am meisten plagte. Entweder er lag stundenlang wach und dachte über alles nach oder aber er wurde von Albträumen verfolgt. Und wenn es das nicht war, dann rissen ihn meistens Cressidas Schreie aus den Gedanken oder dem Schlaf. Die Nächte kamen Gale immer unendlich vor, sie waren zu still und zu ruhig, er hatte zu viel Zeit, um sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Ihm fehlte außerdem seine Familie. Sie waren zurück nach Distrikt 12 gekehrt. Dort gehörten sie nun einmal hin. Natürlich hatten sie es mittlerweile sehr viel besser und auch Gale ließ ihnen regelmäßig finanzielle Unterstützung zukommen. Dennoch fühlte er sich furchtbar, weil er nicht bei ihnen sein konnte, um seiner Mutter unter die Arme zu greifen und für seine Geschwister da zu sein. Vor allem für Posey. Sie war noch so klein, so jung. Sie brauchte eine Art Vaterfigur in ihrem Leben und wenn es er war, der dafür herhalten musste. Doch er konnte nicht zurück nach Distrikt 12. Das hätte alles noch so viel schlimmer gemacht. Das wusste seine Mutter und sie hatte ihn beinahe angefleht, das zu tun, was für ihn das Beste war. Das Problem war jedoch, dass er das nicht gewohnt war. Er hatte in den guten zwanzig Jahren, in denen er jetzt lebte, nie sonderlich auf sich selbst geachtet. Es war ihm prinzipiell egal gewesen, wie es ihm erging. Der Mittelpunkt seiner Welt war nicht er selbst gewesen. Anfangs hatte seine eigene Familie diesen dargestellt, hinterher war dann die von Katniss hinzu gekommen und zu guter letzt hatte sich der Kreis der Leute, für deren Wohlbefinden Gale sich interessierte, sich nicht mehr nur auf seine Liebsten bechränkt, sondern quasi auf das ganze Land. Das war der entscheidende Fehler gewesen. Denn Gale hatte von Anfang an gewusst, dass der Krieg nicht für jeden einzelnen Bewohner Panems gut ausgehen würde.
"Dann lass es uns durchziehen", meinte er dann bestimmt, wandte seinen Blick schließlich vom Fenster ab und blickte wieder zu Cressida, die noch immer auf der Fensterbank saß. "Immerhin ist das hier jetzt ein freies Land. Jedenfalls angeblich. Was wollen sie schon groß dagegen unternehmen?"

Eher unbewusst machte Cressida Gale ein wenig Platz, so dass er sich auf der Fensterbank neben ihr abstützen konnte. Ganz kurz viel ihr auf, wie sich Gale verändert hatte. Schon vorher war er sehr muskulös gewesen, aber jetzt, nach dem Training und all den Anstrengungen, sah man es noch viel deutlicher und er wirkte gesünder. Müde natürlich und fertig, aber eben doch gesünder als vorher. Auch die ganze frische Luft und die Sonne taten ihm gut, denn jetzt zierte seine Haut ein bronzener Schimmer. Das alles ließ ihn auch irgendwie erwachsener wirken. Cressida wusste, dass sie selbst meistens älter wirkte, als sie tatsächlich war, aber bei Gale war es auch die Aura. Seine ganze Ausstrahlung zeigte, dass er wusste, wovon er redete. Sie selbst war fest davon überzeugt, dass genau das der Grund war, warum ihm so viele folgten. Draußen wurde es langsam dunkler, weshalb Cressida ganz leicht die Stirn runzelte. Sie wollte nicht, dass es dunkel wurde. Sie wusste ja, dass sie sowieso nicht genug Schlaf bekommen würde, aber Ablenkung hatte sie hier auch nicht. Wenn es erst mal dunkel war, würde sie keine Ausrede mehr haben um hier zu sitzen. Vor Gale bräuchte sie diese Ausrede vielleicht gar nicht, aber vor sich selbst auf jeden Fall.
Kurz atmete sie etwas tiefer ein und aus, dann nickte sie. "Wir fangen morgen an.", sagte sie fest und schmunzelte dann sogar. "Richtig. Wenn sie uns einschränken geben sie nur zu, dass alles anders ist, als es scheint.", antwortete sie und sprang dann von der Fensterbank. "Mrs Colton hat uns wieder Essen rüber gebracht. Lust auf aufgewärmtes Fleisch mit Nudeln?", fragte sie fast etwas spöttisch, bevor sie mit ihm in die Küche lief. Eigentlich konnte sie selber ja sogar ein bisschen kochen, aber das hatte ihr Messalla beigebracht und deswegen wollte sie es hier nicht machen. Also gab es nur die aufgewärmten Sachen von Mrs Colton. Aus einfachen Tellern und an dem kleinen Tisch in der Küche oder im stehen. Essen war unwichtig geworden. Cressida tat es nur, um zu überleben oder aus Reflex, weil sie manchmal nicht wusste, warum sie noch lebte. Als das Essen fertig war reichte sie Gale seinen Teller, während sie sich selber auf die Küchentheke setzte.

Während Gale zustimmend nickte, wanderte sein Blick aus dem Fenster. Es wurde von Minute zu Minute dunkler und mit der Farbe des Himmels veränderte sich auch die Atmosphäre. Alle warteten angespannt auf die Nacht, Cressida eingeschlossen, das war Gale bewusst. Irgendwann zwischen ihrem ersten Treffen und jetzt hatten sie anscheinend die Zeit gefunden, einander kennenzulernen und Wissen über den jeweils anderen anzuhäufen, ohne es wirklich zu wissen. Mittlerweile war es so, als würden sie einander bereits Jahre kennen, was wohl vor allem daran lag, dass sie in so kurzer Zeit so viel gemeinsam erlebt und vor allem überlebt hatten. Der junge Mann kannte so vieles von Cressida, das er bei anderen Menschen nicht in zehn Jahren kennengelernt hatte. Er bewunderte ihre Stärke unheimlich, aber dennoch hatte er auch Momente miterlebt, in denen selbst sie Schwäche zugelassen hatte. Besonders schlimm war es gewesen, als sie nach und nach Teile ihres Trupps verloren hatten, ohne genug Zeit zu haben, diese Verluste ordentlich zu betrauen und zu verabreiten. Sie hatten jedes Mal gleich weitergemusst, ohne sich überhaupt vernünftig wieder fangen zu können. Und genau jetzt war eben die Zeit, dies nachzuholen. Das passierte vor allem Nachts, denn das meiste wurde irgendwie unbewusst im Schlaf verarbeitet, war dabei aber gleichzeitig auch doppelt schrecklich. Genau diese Tatsache wurde Gale jedes Mal nachts wieder vor Augen geführt, wenn er von Cressidas Schreien aufgeweckt oder wachgehalten wurde.
Gale folgte Cressida nur in die Küche und nickte schweigend. Essen. Etwas, das einfach nur noch Teil seines Tagesablaufs geworden war, ohne wirklich eine Bedeutung zu haben. Es gehörte dazu, war Teil der Routine. Schweigend aß er seine Portion Nudeln mit Fleisch, während sein Blick in der Küche umherschweifte und immer mal wieder wie zufällig an Cressida hängenblieb. In seiner Zeit in Distrikt 12 hatte er nie wirklich Zeit dazu gehabt, sich großartig mit Mädchen auseinanderzusetzen. Zwar war ihm im Nachhinein bewusst, dass er bei diesen eigentlich ganz gut angekommen war, so richtig interessiert hatten sie ihn jedoch nicht so richtig. Cressida war so anders als Katniss, sowohl innerlich, als auch äußerlich. Trotzdem hatte sie etwas an sich, das Gale irgendwie faszinierte. Die Revolution hatte ihre Spuren bei ihr hinterlassen, dennoch hatte sie nichts von ihrer alten Schönheit verloren. Vom Typ her glich sie ein wenig Madge, der Tochter des Bürgermeisters aus Distrikt 12, auch wenn sie sich charakterlich nicht mehr hätten unterscheiden können. Gale hatte es Katniss nie erzählt, doch während deren Zeit in der Arena hatte er Madge hin und wieder besucht und auch, wenn sie nie an Katniss rangekommen war, hatte sie ihm irgendwie einen gewissen Halt verliehen und unter anderen Umständen hätten sie einander vielleicht wirklich näher kommen können. Seit der Flucht aus Distrikt 12 hatte er jedoch nichts mehr von Madge gehört. Er wusste nicht, ob sie und ihre Familie noch am Leben waren, ob sie es damals auch nach Distrtikt 13 geschafft hatte - sie waren einfach zu viele gewesen - oder ob sie schon davor an einen anderen Ort geflohen waren.
Nach dem Essen übernahm Gale schnell den Abwasch und auch, wenn sie beide es herauszögerten - es führte kein Weg daran vorbei, dass sie einander schließlich eine Gute Nacht wünschten und in ihren Zimmern verschwanden, deren Türen sich beinahe exakt gegenüber voneinander befanden. Gale nahm noch eine schnelle Dusche, putzte sich schließlich die Zähne und suchte dann nach einer anderen Beschäftigung, um die Schlafenszeit ein wenig nach hinten zu verschieben. Eigentlich hatte er einen Brief an seine Familie schreiben wollen, aber irgendwie war ihm gerade nicht danach und so hatte er sich schließlich schlafen gelegt.
Mittlerweile lag er schon eine gefühlte Ewigkeit - er wusste nicht einmal, wie lange, denn er vermied es, auf die Uhr zu sehen - in seinem riesigen Bett und starrte lediglich die Decke an. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, kamen die ganzen Erinnerungen, die Schuldgefühle und vor allem der Hass auf sich selbst zum Vorschein. Man hatte ihm bereits Schlaftabletten zukommen lassen, damit er besser schlafen konnte, doch er traute den Dingern nicht. Er war sich über ihre Nebenbedingungen ziemlich bewusst und außerdem hatte er das Gefühl, dass sie nicht seiner Gesundheit dienen sollten, sondern einfach nur bewirken sollten, dass er am nächsten Tag vor der Kamera gesund und ausgeschlafen wirkte.

Cressida bemerkte, dass Gale sie während dem Essen immer wieder ansah, aber da sie das nicht bemerken würde, wenn sie ihn nicht auch ansehen würde, sagte sie nichts dazu. Man kam sich eben so oder so näher, wenn man im gleichen Haus wohnte und es war nochmal eine ganz andere Verbindung, wenn man davor zusammen durch die Hölle gegangen war. Durch die von Menschen erschaffene Hölle. Manchmal waren es nicht nur die Alpträume, die sie wachhielten, sondern auch der Ekel, wenn sie an all das zurück dachte. Sie wirkte immer so hart und als würde ihr das alles nichts ausmachen, aber in Wahrheit konnte sie so etwas nicht sehen.
Vermutlich hatte sie sich deshalb Nachts nie unter Kontrolle, obwohl sie nicht wusste, dass Gale die Schreie hörte. Er hatte sie immerhin nie darauf angesprochen. Selbst wenn würde er sie nicht darauf ansprechen, denn sie wusste, dass ihm genauso ging. Was hätten sie sich auch sagen sollen? Hör auf zu schreien? Es tut mir leid? Geht's dir gut? Nichts davon wäre irgendwie sinnvoll. Genauso wenig wie das Essen nicht wirklich sinnvoll wäre, wenn es nicht zur Routine dazu gehören würde. Die Routine war notwendig für sie beide, denn sie mussten ganz langsam anfangen wieder in ein normales Leben einzusteigen. Normal. So ein Schwachsinn. Es würde nie wieder normal werden und daran würden auch die ganzen Tabletten nichts ändern, die Cressida genauso verweigerte wie Gale. Lieber hatte sie Alpträume als zu gedröhnt zu sein und nichts mitzubekommen. Sie halfen sowieso nicht... Am Anfang hatte sie sie genommen, aber es hatte einfach gar nichts gebracht. Seit dem waren sie irgendwo tief verstaut in einem Schrank oder einer Schublade. Sie wusste es selber schon nicht mehr und es war ihr auch egal. Mit dem Abwasch versuchten sie beide das Schlafengehen noch weiter in die Länge zu ziehen und als sie sich dann doch Gute Nacht sagten, verschwand auch Cressida als erstes unter der Dusche, bevor sie sich vor den Spiegel stellte. Man konnte die Wunden noch immer sehen, aber sie waren dank der Technik schon ziemlich gut verheilt und nur noch ein bisschen empfindlich. Ihre Haare waren auch länger geworden und an ihrem Side Cut hatte sich ein leichter Flaum gebildet, den man kaum wirklich sah. Heute fiel es ihr aber mehr auf als sonst und plötzlich wurde sie fast ein bisschen wütend auf sich selbst. Sie tat, was man ihr sagte und vernachlässigte sich selbst. Dabei war sie nie jemand gewesen, der tat, was man ihr sagte und morgen würde sie das auch wieder ändern. Aus diesem Grund schnappte sie sich jetzt auch den Rasierapparat und vernichtete den Flaum, bevor sie den geflochtenen Zopf auftrennte und neu machte. Sie schnitt sich sogar die Haare wieder um ein paar Zentimeter, bevor sie in ihr Schlafzimmer ging und wahllos Unterwäsche, ein Shirt und eine kurze Hose anzog. Das reichte hier auch. Als sie angezogen war setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb einen Plan für den nächsten Tag, bevor sie wirklich müde wurde und einfach hoffte, dass sie jetzt auch würde schlafen können. Natürlich war das ein Trugschluss, denn obwohl sie tatsächlich schnell einschlief, nachdem sie sich hingelegt hatte, dauerte es auch nur wenige Stunden, bevor die Träume kamen und heute waren die schlimmer als sonst. Zuerst war alles ganz friedlich. Wie in der Aufnahme, die sie gesehen hatte. Castor und Pollux lachten über irgendetwas, Messalla besprach irgendwas mit ihr. Von den Gesprächen bekam sie gar nicht wirklich etwas mit und irgendwann bemerkte sie, dass auch die Details irgendwie zu verschwimmen schienen. Alles löste sich langsam auf, bis sie alleine im Dunkeln stand. Nein nicht stand. Sie rannte. Sie rannte vor irgendetwas davon und zuerst dachte sie, dass es diese Biester in der Kanalisation wären, weil auch Pollux neben ihr war, aber als sie sich umdrehte sah sie, dass Castor und Messalla sie verfolgte. Zähnefletschend, aber sonst ganz normal. Sie rannte immer schneller, bis sie gegen eine Wand stieß. Panisch drückte sie erst dagegen, bevor sie sich umsah, um irgendwo anders hinzu entkommen, aber die waren die beiden schon vor ihr. Pollux war direkte neben ihr und tastete nach ihrer Hand, die er zerquetschte. Es war so realistisch, dass sie zuerst dachte, dass es eine Angstreaktion wäre, aber als sie zu ihm blickte, sah er sie mit einem harten Blick an, als wollte er sagen, dass sie Schuld war. Wie immer war es Castor, der die Gedanken aussprach. "Du bist schuld Cressida. Du hast dich entschieden ihr zu folgen und wir sind dir gefolgt. Hättest du nichts gesagt hätte dir niemand geglaubt und wir wären nicht tot und Pollux wäre nicht alleine." - "Du hast doch gesehen, wie ich gestorben bin oder Cressida? Du hast immer gesagt ich würde dir etwas bedeuten, aber als ich gestorben bin, bist du einfach weiter gerannt. Du bist den anderen mit gerannt. Mit denen, die uns auf dem Gewissen haben." Messalla schien ihr die gleichen Vorwürfe machen, aber er hätte nicht fragen müssen, ob sie sich erinnerte, denn jetzt löste er sich wieder auf, wie damals in dem Licht und wieder sah es so schmerzvoll aus. Nur hörte sie diesmal auch seinen Schrei. Zumindest dachte sie das, denn brauchte eine ganze Weile, bis sie merkte, dass sie selber schrie und wieder wach war. Zitternd und schluchzend rollte sie sich immer enger zusammen und versuchte es irgendwie zu unterdrücken, aber sie konnte nichts dagegen tun, dass immer wieder ein gequälter Laut aus ihrem Mund kam.

Mehrfach atmete Gale tief durch und konzentrierte sich dabei auf die regelmäßigen Hebungen und Senkungen seiner Brust. Immer, wenn er gerade dachte, dass sie sich beruhigt hatte, hörte er erneut gequälte Laute aus dem Zimmer gegenüber. Er hasste es, ihr nicht helfen zu können. Irgendwie konnte er schon, aber er hatte nicht das Gefühl, dazu berechtigt zu sein, sie jetzt aufzuwecken und sie quasi mit allem zu konfrontieren. Dazu standen sie sich nicht nahe genug, irgendwie. So richtig erklären konnte er ihr Verhältnis zueinander nicht wirklich. Sie waren ein eingespieltes Team, aneinander gewöhnt, sie funktionierten gut. Aber wenn es um Gefühle und Schwächen ging, dann hörte das Ganze abrupt auf. Irgendwie hatten die beiden klare Grenzen, obwohl sie diese nie absichtlich festgelegt hatten. Es war seltsam. Diese Schreie, die er nachts hörte, waren im Prinzip das Intimste, was er von ihr mitbekam, dabei war das nicht einmal gewollt.
Schließlich seufzte der Dunkelhaarige, schlug seine Bettdecke zurück und griff im Dunkeln nach dem Schalter seiner Nachttischlampe, die den Raum im nächsten Moment mit leicht gedimmten Licht erhellte. Heute Nacht würde er sowieso nicht mehr zum Schlafen kommen, das hatte er soeben beschlossen. Er setzte sich also in seinem Bett auf, lehnte sich mit dem Rücken leicht gegen das Kopfende seines Bettes und wägte seine Optionen ab. Dann erhob er sich, lief hinüber zum Fenster und öffnete es. Es war irgendwie unangenehm warm im Raum und er hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen, weshalb er sein dunkles T-Shirt einfach auszog, sodass er nur noch in seiner grauen Schlafanzughose dastand. Schließlich trank er im Badezimmer ein paar Schlucke aus dem Wasserhahn, ließ sich dann mit einem Buch wieder auf seinem Bett nieder und begann zu lesen. Er hatte erst hier angefangen zu lesen. Vor seinem Umzug nach Distrikt 2 hatte er Büchern nie großartig Beachtung geschenkt, weil er einfach weder das Geld, noch die Zeit dafür hatte aufbringen können. Mittlerweile war es eine ganz willkommene Ablenkung für ihn. Vor allem, wenn er mal wieder nicht schlafen konnte oder Ablenkung von dem Chaos in seinem Kopf brauchte. Das kleine, hölzerne Bücherregal in seinem Zimmer füllte sich immer mehr mit den verschiedensten Arten von Büchern. Gale wusste nicht, warum, aber er mochte vor allem Biographien, auch wenn ihm viele der Leute anfangs überhaupt nichts sagten. Sie hatten immer dieselbe Struktur und man wusste schon von vorneherein, wie das Ganze enden würde. Es gab keine Überraschungen. Gale hatte angefangen, Überraschungen zu hassen. Egal, welcher Art. Selbst, wenn es nur aprubte, unerwartete Geräusche waren, die ihn aufschrecken ließen - er hatte lieber einen Überblick über alles und wusste schon vorher, was passieren würde.